Wie ist die Ausgangslage 2023 in der Gesellschaft und der Film- und Fernsehbranche? Wie entstand dieses Informationsportal?
Film und Fernsehen
In einer kürzlich erschienenen Studie (Jörg Langer 2022) gaben 43 % der befragten Filmschaffenden an, Kinder zu haben und alleinerziehend oder in einer Beziehung zu leben. Gleichzeitig sagten mehr als zwei Drittel der Befragten (79 %), dass Filmberuf und Familie nur schwer oder gar nicht zu vereinbaren seien.
Wohlgemerkt, bei Familienfreundlichkeit geht es nicht nur um Eltern kleiner oder mittlerer Kinder, sondern auch um Menschen, die ältere Angehörige pflegen, oder deren Partner oder Partnerin schwer krank ist, und die mit der Filmbranche verbunden bleiben wollen.
Aus Dänemark hören wir Nachahmenswertes. Sie haben den acht Stunden Arbeitstag, zu dem sich die großen Produktionsfirmen und Sender verpflichtet haben. Nicht wie bei uns acht Stunden Kamerazeit und insgesamt ein zwölf Stunden-Tag, der auch noch öfter überzogen wird. Und trotzdem drehen sie ihre Projekte in vergleichbaren Drehzeiträumen wie wir. Dann gibt es z.B. Projekte wo die Verantwortlichen sagten: Wir drehen auswärts, alle wollen am Wochenende bei ihren Kindern sein, also machen wir die Drehtage länger und drehen dafür nur vier Tage.
Eine (bezahlte) Kinderfrau während der Drehzeit wird bei uns hauptsächlich Regisseurinnen und Hauptdarstellerinnen ermöglicht. Da gibt es einen Rückzugsraum am Set wo sie ihr Kind in Ruhe stillen oder Milch abpumpen können. Da ist die Nanny auch bei Auswärtsdrehs dabei, ihr Flug wird bezahlt, ihre Unterkunft, ihre Verpflegung. Nur den Arbeitslohn zahlt die Mutter selber.
Nur eben nicht jede Mutter. Für die Regieassistenz, die Tonanglerin, die Maskenbildnerin mit Säugling oder Kleinkind gibt es das nicht. Und eine Schauspielerin die nicht die Hauptrolle spielt will man nicht mehr so gerne besetzen sobald sie schwanger ist, weil das vielleicht Probleme mit der Versicherung macht.
Frauen verdienen leider auch in der Filmbranche weniger als Männer, Schätzungen gehen von mindestens 30 % Gender Pay Gap aus. Der kann aber schnell größer sein, in einzelnen Gewerken oder individuell.
Mitte Februar 2023 hieß es in einem Grundsatzurteil vom Bundesarbeitsgericht, dass Equal Pay nicht vom Verhandlungsgeschick abhängen darf und dass gleichwertige Arbeit gleich bezahlt werden muss. Das hätte eigentlich Diskussionen in der Filmbranche auslösen müssen. Die blieben aber aus.
Stattdessen haben wir hier neben dem Gender Pay Gap auch noch den Status Pay Gap, z.B. beim Schauspiel.
Der bedeutet, dass die Hauptrollen im Vergleich zu den Kolleg:innen mit kleineren Rollen unverhältnismäßig viel mehr verdienen. Marktwert und Verhandlungsgeschick, mehr Sichtbarkeit, mehr Filmpreise – wo natürlich die Frauen auch wieder benachteiligt sind, weil es für sie deutlich weniger Rollen gibt.
Vielleicht sind Staffelgagen mit Mindest- und Obergrenzen ein Ansatz?
Was wir im Augenblick z.B. bei Fernsehfilmen haben, ist, dass die männliche Hauptrolle oft deutlich mehr verdient als die männliche Regie, die wiederum mehr als die weibliche Regie bekommt, und die weibliche Hauptrolle kriegt auf die ganze Produktionszeit bezogen immer noch sehr viel, aber deutlich weniger als die männliche Hauptrolle.
Es gibt die größeren Nebenrollen und dann die kleinen mit ein, zwei, drei Drehtagen. Da heißt es öfter, wir haben leider nicht viel Geld, weil die Hauptrollen soviel kosten, kannst du auch mal für weniger als üblich arbeiten? Das lehnen die wenigsten ab.
Inwieweit ist das für Kinderbetreuung wichtig? Erst mal hat die Darstellerin kleiner Rollen weniger Geld. Und zum zweiten, sie möchte den Kontakt zur Branche behalten auch in der Kinder- oder auch Pflegezeit. Sie möchte weiter gesehen werden, und das müsste in unserer Branche gut gehen, weil man da ja keine Dauerbeschäftigung hat sondern einzelne Projekte mit mal mehr mal weniger Drehtagen. Nur wenn die Gagen so niedrig sind und komplett für die Kinderbetreuung draufgehen, funktioniert das natürlich nicht.
Dazu kommt das Problem mit den Sperrtagen. In Großbritannien darf eine Hauptrolle nicht gleichzeitig mehrere Produktionen drehen. Bei uns darf sie das. Sie kann sogar Projekte verschieben lassen, weil sie noch was anderes angenommen hat.
Die Nebenrollen, die für ein, zwei, drei Drehtage verpflichtet werden, müssen für den ganzen Zeitraum zur Verfügung stehen und erfahren vielleicht erst kurz vor Drehbeginn, ob sie die Rolle haben oder nicht. So kann niemand planen, keine Kinderbetreuung, keine Versorgung von Schulkindern, keine Ersatzpflege für Angehörige, wenn für ein, zwei, drei Tage – womöglich in einer anderen Stadt – ein ganzer Monat freigehalten werden muss. Deshalb würde es schon einiges bringen, wenn die Hauptrollen komplett für die Drehzeit zur Verfügung stehen müssen, und die großen und kleinen Nebenrollen Sperrzeiten haben dürfen. Zur Zeit können die schnell ein Ausschlussgrund bei der Besetzung sein.
Teilzeitarbeit gibt in der Variante weniger Stunden täglich zu arbeiten, oder weniger Tage die Woche.
Nehmen wir als Beispiel die Kameraabteilung für einen Kinofilm, da gibt es den DoP, d.h. einen Kameramann oder eine Kamerafrau. Dazu kommt die 1. und die 2. Kameraassistenz. Wobei für diese Positionen oft viele Leute genannt werden, weil sie teilweise eingesprungen sind, als Ersatz oder zusätzlich. Das kennen wir auch aus der Maske oder dem Ton, aus vielen Bereichen. Von da ist es nicht so weit zu Jobsharing, wo sich zwei Filmschaffende eine Position teilen, nicht unbedingt an einem Tag, sondern über die Drehzeit verteilt, das muss nicht 50:50 sein, und wird in einigen Fällen bereits praktiziert.
Ein Hindernis für Jobsharing von deutschen Filmschaffenden können aber europäische Koproduktionen sein, die im Ausland gedreht werden. Da ist ein Modell wie „ich gehe nur für einzelne Tage an den Set“ nicht mehr so leicht möglich. Dazu kommt, dass bei Auslandsdrehs ein Großteil der Crew vor Ort gebucht wird, weil die Gagen niedriger sind und es zusätzliche Steuervorteile gibt. Leider werden gerne auch aus Kostengründen (kleinere) Nebenrollen vor Ort besetzt, der Dreh läuft dann zweisprachig und es wird nachsynchronisiert. Aber das heißt natürlich, dass diese kleinen Rollen, dieses Kontakthalten zur Branche, dann nicht möglich ist. Eine kleine Rolle, die wäre für mich ideal, ich pflege n Angehörigen, ich habe ein Kind, mein Partner ist krank, ich könnte aber eine kleine Rolle übernehmen, Geld verdienen, arbeiten, sichtbar sein. Nur klappt das nicht, wenn diese kleine Rolle vor Ort besetzt wird. Genauso schwer ist es für die Kamerafrau, die in Teilzeit arbeiten möchte.
Corona hat Impulse gebracht, und zwar haben wir angefangen, die Präsenzkultur in Frage zu stellen. Vieles ging auf einmal digital oder von Zuhause aus, wo es vorher hieß „Du musst in die Produktionsfirma oder den Sender kommen“. Nicht nur aber natürlich auch Castings oder Bewerbungsgespräche für die Crew.
In Deutschland wird sehr viel über Gesetze, über Vorschriften gemacht. Also wäre ein sozialer Drehpass ein Weg. Man könnte sagen, wer Förderung will, muss familiengerecht arbeiten, Jobsharingmöglichkeiten anbieten, Optionen wie die Vier-Tage-Woche und flexible Arbeitszeiten, und und und.
Wir können auch schon einiges verändern über Einmischung, über Nachfragen, Neinsagen, über Solidarität. Einen Hebel hat man nicht mehr nur beim Aushandeln der eigenen Gagen, sondern auch bei den Rahmenbedingungen, unter denen wir miteinander arbeiten – wir sagen doch immer, wir sind die große Filmfamilie?
Solidarität und Transparenz, miteinander sprechen und wahrnehmen was andere brauchen, nicht nur ich selber. Das ist der Schlüssel.
Belinde Ruth Stieve, Schauspielerin. Experstieve. Foto Dixie Schmiedle.
Dieser Text ist ein Ausschnitt der Keynote beim Familiengerechtes Drehen – der konkrete Kongress von ProQuote Film am 21.2.23. Eine längere Fassung finden Sie im Blog SchspIN.