Familienfreundliches Drehen Pro Quote Film

Was kann Filmschaffenden mit Kindern oder familiären Pflegeaufgaben helfen, weiter in der Filmbranche zu arbeiten?

Anders Arbeiten

Eigentlich braucht unsere Gesellschaft einen Paradigmenwechsel. Carearbeit, Sorgearbeit sollte mit in den Mittelpunkt unserer Gesellschaft gestellt werden. Fürsorglichkeit füreinander ist dafür die Grundvoraussetzung, und das Verantwortungsgefühl sich um andere zu kümmern müsste fairer verteilt werden unter allen Erwachsenen.

Jo Lücke, Expertin für Equal Care und Mental Load

Für ein besseres Arbeiten und die Möglichkeit, Filmberuf und Familienverpflichtungen zu vereinbaren, ist eine einigermaßen verlässliche Planbarkeit in der Projektarbeit unerlässlich. Es reicht nicht, erst kurz vor Drehbeginn verbindliche Zusagen oder verbindliche Arbeitspläne und Drehorte zu erhalten. Zeit ist Mangelware, und das Unvermögen, konkret zu planen zu machen, weil eben noch nicht feststeht, ab wann oder ob man in einer Produktion arbeiten wird, führen zu erheblichen Problemen bei der Organisation von Kinderversorgung und Pflege. Es macht die außerdem viele private bzw. familiäre Aktivitäten unmöglich. (dies ist auch eins der Ergebnisse der österreichischen Branchenbefragung von film fatal – siehe auch Studien).

Daneben ist eine Flexibilität bezüglich der individuellen Verteilung und Organisation der Arbeitszeit und gegebenenfalls auch der Einsatzorte wünschenswert  (Stichworte Arbeitszeitmodelle und Hybrides Arbeiten). Das bedeutet vor allem eine Offenheit der Arbeitgeber gegenüber verschiedenen, womöglich neuen Arbeitsmöglichkeiten für ihre Mitarbeiter:innen. Eine Offenheit gegenüber dem Ausprobieren. Denn vieles ist möglich.

Erste Vorschläge für ein Anderes Arbeiten, das allen in der Branche zugute kommen kann.

  • Familienfreundlichkeit als freiwillige Selbstverpflichtung

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    Eine Produktionsfirma kann ohne Vereinbarkeitssiegel, ohne Verpflichtung zu familienfreundlichen Rahmenbedingungen diese beschließen. Sie kann dies nach innen und nach außen kommunizieren, schon bevor die Crews zusammengestellt werden. Dies erleichtert eventuell neuen Mitarbeiter:innen, das Thema und eigene Bedürfnisse anzusprechen. Außerdem kann die Produktionsfirma eine Vorbildfunktion für andere werden.

  • Ein angstfreies Arbeitsumfeld

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    frei von ungewollten Überstunden, Barrieren, Diskriminierung und Machtmissbrauch.

    Frei von der Hemmung, über Familie zu sprechen, zu wünschen, dass Besprechungen auf die Vormittage gelegt werden, zu verlangen, dass es Freitags keine Nachtdrehs gibt, dass nach 13 Stunden Schluss ist. Ohne fürchten zu müssen, dass man als teamunfähig gilt, dass man nie mehr einen Job kriegt, ohne Angst vor Unverständnis und Ablehnung. Menschen die sich dafür entschieden haben, einen Angehörigen zu versorgen, brauchen solidarische Unterstützung.Und keine ungefragten Ratschläge, was sie anders machen sollen und dass Vereinbarkeit nur eine Frage der eigenen Bereitschaft ist.

  • Anzahl der Drehtage realistisch festlegen

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    Gerade bei Fernsehproduktionen wird die Anzahl der Drehtage in den meisten Fällen durch das Format und vielleicht noch den Sendeplatz bestimmt. Konstruktiver wäre, den Drehumfang am Buch zu orientieren, um besser arbeiten zu können und die Überstunden, die Belastung und den Stress für alle zu mindern.

    Das bedeutet, dass aus einem Drehbuch der vermutliche Aufwand, die Anzahl der Motive, Umzüge, mögliche Massenszenen, Stunts, Verfolgungsjagden, Szenen mit Kindern u.a.m. gezogen wird. Darüber sollte abgeschätzt werden, wie viele Drehtage für die Produktion überwiegend erforderlich sind. Die derzeit gängige Praxis ist bei Fernsehproduktionen die Anzahl der Drehtage an das Format zu koppeln. Dabei reichen z.B. 90-Minüter von Geschichten, die kammerspielartig mit kleiner Besetzung an einer Handvoll Innenmotiven spielen, bis zu solchen, die an zehn verschiedenen Außenmotiven gedreht werden, Actionszenen, Verfolgsungsjagden und Nachtdrehs beinhalten, Massenszenen und Kinderdarsteller:innen vorsehen.

    Die Auftraggeber sollten über ihre Redaktionen diesem unterschiedlichen Aufwand Rechnung tragen und den Produktionen individuell angepasste Drehdauern, konkret: Anzahl von Drehtagen, zugestehen und finanzieren. Das führt zu entspannteren Dreharbeiten, weniger Druck und Stress, womöglich geringerem Unfallrisiko (z.B. infolge von Erschöpfung am Set und auf der Heimfahrt) und besseren Arbeitsergebnissen.
    Ein Film kann so teurer werden (mehr Drehtage), ein anderer billiger. Vielleicht gleicht sich das über einen längeren Zeitraum aus.

  • Drehbücher früher abnehmen

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    Die weit verbreitete Praxis, Drehbücher selbst nach Drehbeginn noch ein wenig bis sehr deutlich zu verändern ist nicht der professionellste Ansatz, denn er erschwert die Arbeit fast des gesamten Teams.
    Auf Grundlage von unfertigen Drehbüchern können keine verbindlichen Drehpläne erstellt, keine Motive und Quartiere festgelegt, Übernachtungen und Fahrten, keine Zusatzmaske und -garderobe verbindlich gebucht werden. Auch die Gewissheit, welche Rollen endgültig in der Geschichte vorkommen, fehlt aufgrund noch nicht abgenommener Drehbücher. Das bedeutet, dass Schauspieler:innen, die für kleine Nebenrollen angefragt werden, erst zu Drehbeginn oder noch später erfahren, ob sie dabei sind und für wann sie eingeplant werden. Oder ob ihre Figur gestrichen wurde. Aber auch andere Abteilungen der Produktion brauchen für ihre Arbeit die endgültige Drehfassung des Buchs und den Drehplan: Aufnahmeleitung, Set-AL Szenenbild und Requisite, Masken- und Kostümbild um nur einige zu nennen.
    Das ist nicht effektiv, es verursacht unnötigen Stress für Filmschaffende und höhere Ausgaben für die Produktion.
    Dass es Eltern jüngerer Kinder und pflegende Angehörige mehr betrifft, die zusätzlich zur Organisation des eigenen Kalenders auch den ihrer Familienmitglieder verantworten, wird unter „Projekte fixieren“ weiter ausgeführt.
    Vorschlag: eine freiwillige Selbstverpflichtung von Produzent:innen und Autor:innen, Drehbücher spätestens 4 Wochen vor Drehbeginn verbindlich abzunehmen. Dann können alle Gewerke professionell arbeiten, ihre Teams zusammenstellen, Drehplan, Rollen / Drehtage.

  • Projekte und Drehzeiten früher zuverlässig festlegen

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    Niemand ist wirklich glücklich über unverbindliche Anfragen oder langes Warten auf Zusagen, so geht es aber leider den meisten Freiberuflichen, auch außerhalb der Filmbranche. Wobei unverbindliche Anfragen besser sind als keine. Jedoch, niemand kann auf ein „Wahrscheinlich holen wir Dich im Sommer für diese Produktion“ wirklich bauen und planen.
    Leider gehört es zwangsläufig zum Alltag vieler Filmschaffender, und das immer wieder, denn eine unbefristete Beschäftigung haben höchstens Angestellte bei Produktionsfirmen oder Filmförderungen. Andererseits werden aus Anfragen auch immer wieder Verträge und kreative Projektmitarbeit. Alles ist relativ, und das gilt in diesem Fall besonders für den Zeitaspekt. Optionen endlos halten müssen, womöglich bis Drehbeginn, ist nicht zumutbar. Alles auf diese Karte setzen und andere Anfragen absagen, und am Ende womöglich leer ausgehen? Oder die schlechtere Anfrage annehmen und so vielleicht das spannendere, besser bezahlte Projekt verpassen?
    Diese unklare Situation bedeutet für Menschen mit Kindern zusätzlichen Stress. Ohne Drehplan wissen sie nicht, wann im Drehzeitraum sie bspw. voraussichtlich drei zusammenhängende Tage und Nächte nicht an ihrem Wohnort sein werden.
    Aber auch Menschen mit Familienverpflichtungen die nur einzelne Tage arbeiten können und möchten, brauchen so früh wie möglich Planungssicherheit, um bspw. Ersatzpflege oder Kinderbetreuung zu organisieren. Das kann der Maskenbildner oder die Tonassistentin sein, die für Drehtage mit vielen Schauspieler:innen oder auch Massenszenen zusätzlich angefragt werden. Eine prophylaktische Betreuungsanfrage über den gesamten Drehzeitraum macht wenig Sinn.
    Auch Filmschaffende ohne Pflegeverpflichtungen werden durch späte Fixierung in der Planung privater/familiärer Aktivitäten behindert.
    Klare Absprachen und Fixierung / Festlegung von Terminen und Projekten – bezüglich der Organisation von Arbeit und Arbeitszeiten wünschen sich Filmschaffende mit Familienverpflichtungen, aber nicht nur sie.

  • Verträge deutlich früher vorlegen

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    Solange kein Vertrag unterschriftsreif fertig ist – tageweise Beschäftigte bekommen die Verträge oft erst nach abgeschlossener, abgedrehter Arbeit – gibt es keine Verbindlichkeit und keine Planbarkeit.

  • Weniger Bürokratie

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    Wer neben der Arbeit pflegebedürftige Angehörige oder kleine Kinder versorgen muss hat keine Zeit für aufwändige Formalitäten und lange Antragsformulare. Dies wurde zu Coronazeiten u.a. im Vereinigten Königreich deutlich, wie die Umfrage „How We Work Now“ von Raising Films UK zeigt (siehe Studien und Zahlen https://ffd.proquote-film.de/material/studien/). Und auch die Künstlersoforthilfe in Deutschland hat viele durch ihre Antragsweise abgeschreckt.

  • Hybride Arbeitsformen

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    Drei Jahre Corona haben gezeigt, dass auch in der Filmbranche keine 100 %-ige Präsenzkultur mehr erforderlich ist.
    • Home Office wo möglich
    • Online-Optionen wo möglich / Remote
    • Hybrides Arbeiten und Flexible Lösungen
    • mobiles Arbeitsequipment / Digitale Infrastruktur. Innerhalb der Gewerke kann eine Vorbereitung und Teambildung evt. auch hybrid stattfinden.
    Einen Teil der Arbeit von zu Hause erledigen ist nicht nur für Menschen mit Familie attraktiv. Womöglich noch mehr für Menschen ohne Familie und Ablenkung oder Arbeit zu Hause. Die Produktion spart Geld und die Arbeitenden (Fahrt-)Zeiten.
    Für jede Phase der Produktion könnte mit allen Teammitgliedern nach möglichst frühzeitigem Vertragsabschluss besprochen werden, wer hybrid arbeiten möchte, wer andere Verpflichtungen hat, um möglichst darauf eingehen zu können.
    Ein Beispiel aus der Postproduktion: wenn die Verantwortlichen für Montage und Regie in verschiedenen Teilen der Stadt oder des Landes leben, machen Sie einen Plan, wie sie zusammenarbeiten werden. Müssen sie während der gesamten Schnittzeit im selben Raum sein? Könnte man das z. B. für die erste oder zweite Woche des Schnitts einplanen und dann vielleicht nur ein paar Tage pro Woche zusammen sein, wenn es weitergeht?

  • Verfügbarkeit der Hauptdarsteller:innen

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    Vollständige Verfügbarkeit der Hauptdarsteller:innen heißt: sie dürfen keine Sperrtage mehr im DZR anmelden (wie es beispielsweise in Großbritannien üblich ist). Dies erleichtert der Produktion die Anfertigung des Drehplans, den sie dann nicht mehr um die unvollständige Verfügbarkeit der Hauptdarsteller:innen bauen muss. Ebenso profitieren potenzielle Schauspieler:innen für kleinere Rollen, die so auf einmal auch Sperrtage anmelden können. Denn das ist gegenwärtig fast schon ein Ausschlusskriterium.
    – Hauptdarsteller:innen müssen einer Produktion ebenfalls einen Teil der Vorproduktion für Proben, Kostümproben usw.) ausschließlich zur Verfügung stehen. Sperrtage sind nur in absoluten Ausnahmesituationen (Familie!) möglich und nicht wie üblich wegen einer anderen, teilweise parallel stattfindenden Produktion.

  • Keine Nachtdrehs am Freitag vor dem Wochenende

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    (selbsterklärend). Dies kann als Ergänzung zum Bekenntnis zu familienfreundlichem Drehen eine Selbstverpflichtung der Produktion sein.

  • Geheime Abstimmung über Überstunden

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    Aktuell wird am Set bei Überstunden gefragt „wir müssen noch weiter verlängern, ist das für alle OK?“ Wer traut sich da zu sagen „Nein, ich kann nicht mehr. Meine Konzentration / Kraft ist am Ende“. Oder gar: „ich muss nach Hause zu meiner Familie?“

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